Bewusstes Ignorieren als organisationale Schlüsselkompetenz

Blog / Bewusstes Ignorieren als organisationale Schlüsselkompetenz

Unternehmen, die es schaffen, den organisationalen Burnout dauerhaft zu vermeiden, haben folgendes, auf den ersten Blick paradox anmutendes Prinzip verinnerlicht:

„Je weniger Maßnahmen wir gleichzeitig starten, desto kurzfristiger haben wir Ergebnisse vorliegen und desto mehr Maßnahmen bekommen wir mittel- und langfristig umgesetzt.“

Folgendes Beispiel soll dieses Prinzip veranschaulichen:

Ein Mitarbeiter X soll 3 Aufgaben bearbeiten. Jede dieser Aufgaben ist mit einem Aufwand von 5 Arbeitstagen verbunden. Mitarbeiter X steht für diese Aufgaben mit 100 % seiner Kapazität zur Verfügung.

Vorgehen 1:

Mitarbeiter X erhält nur eine Aufgabe zur gleichen Zeit, d.h. eine neue Aufgabe wird erst vergeben, wenn die vorherige abgeschlossen ist. Das Ergebnis: Die erste Aufgabe ist - bezogen auf den Zeitpunkt der Ausführungsentscheidung - nach 5 Arbeitstagen fertig, die zweite Aufgabe nach 10 Arbeitstagen und die dritte nach 15 Arbeitstagen.

Vorgehen 2:

Mitarbeiter X erhält alle drei Aufgaben zur gleichen Zeit verbunden mit der Vorgabe, seine Kapazität an jedem Arbeitstag zu gleichen Teilen auf diese drei Aufgaben zu verteilen. Das Ergebnis: Alle drei Aufgaben sind erst nach 15 Tagen fertig – wenn es gut läuft.

Der erste Nachteil von Vorgehen 2 gegenüber Vorgehen 1 ist damit bereits offensichtlich: Statt bereits Ergebnisse nach 5 und 10 Arbeitstagen vorliegen zu haben, sind die Aufgaben erst nach 15 Tagen erledigt. Viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass die Ergebnisse erst nach 16 oder 17 Tagen vorliegen. Grund: Es kommt zu dem aus dem Zeitmanagement bekannten Sägezahneffekt. Wenn Menschen aus einer Aufgabe aussteigen und in eine andere einsteigen, dann brauchen sie eine gewisse Zeit, um wieder voll und ganz produktiv zu werden. Diese wiederholten Phasen des Wiederhineindenkens mit verminderter Produktivität wirken sich negativ auf die Gesamtbearbeitungszeit für alle drei Aufgaben aus – auch deswegen, weil die Unterbrechungen mögliche Flow-Effekte behindern. Darin liegt der zweite Nachteil von Vorgehen 2 gegenüber Vorgehen 1. Der dritte Nachteil: Es kann sein, dass sich Prioritäten ändern und eine ganz neue Aufgabe eine der drei Aufgaben ersetzt. Bei Vorgehen 1 kann zunächst die Aufgabe mit der höchsten Priorität bearbeitet werden. Wenn sich in den darauffolgenden fünf Tagen die Prioritäten so ändern, dass die ursprünglich an Nummer 2 oder Nummer 3 gesetzte Aufgabe durch eine andere Aufgabe ersetzt  wird, dann ist kapazitiv kein Schaden entstanden. Bei Vorgehen 2 werden in diesem Fall bereits Ressourcen verschwendet worden sein.

Ausbaustufe:

Mitarbeiter X soll 10 Aufgaben mit jeweils 5 Tagen Arbeitsaufwand bearbeiten, verbunden mit der Maßgabe, seine Kapazität gleichmäßig auf alle Aufgaben zu verteilen. Nominal sind alle Ergebnisse nach 50 Arbeitstagen verfügbar, wegen des Sägezahneffekts vermutlich erst nach 55 oder 60 Arbeitstagen. Richtig spannend wird es, wenn Mitarbeiter X zudem noch unrealistische Fertigstellungszeitpunkte gesetzt bekommt – idealerweise unabgestimmt von verschiedenen Personen in der Organisation. Schon beginnt Mitarbeiter X sich zu überlegen, wo er Abstriche machen kann. Der Prozess des individuellen Ignorierens als lokale Überlebensstrategie hat damit begonnen. Noch spannender wird es, wenn dieses Spiel mit mehreren Mitarbeiter*innen fortgesetzt wird und diese untereinander abhängig von ihren Arbeitsergebnissen sind. Schon hat die Organisation einen Riesenschritt in Richtung rasender Stillstand gemacht. Und wenn sich dann noch innerhalb der gesetzten Frist die Prioritäten ändern und angefangene Aufgaben für obsolet erklärt bzw. durch neue ersetzt werden, dann ist das Chaos perfekt.

 

In allen Organisationen mit diesem Phänomen ist dies ein Management-Problem. Es werden zu viele Maßnahmen zeitgleich und unabgestimmt in der Organisation gestartet. Da kann die operative Ebene noch so agil und performant aufgestellt sein. Früher oder später ist die Organisation verstopft.

Statt die Zeit in Eskalationsrunden zu verbringen, um immer wieder aufs Neue bzgl. der Prioritäten in der ausgeuferten Projektlandschaft Entscheidungen mit kurzer Halbwertszeit zu treffen, könnte sich das Management regelmäßig (z. B. alle 4 Wochen) zusammensetzen, um im Sinne des o.g. Prinzips Prioritäten gemeinsam festzulegen. Dabei ist zu berücksichtigen, was die beteiligten Organisationsbereiche zusätzlich zum operativen Tagesgeschäft (und den üblichen Querschlägern) zu leisten imstande sind. Ausgehend von Priorisierung und Leistbarkeit stimmt das Management gemeinsam darüber ab, welche Aktivitäten in welcher Gleichzeitigkeit und in welcher zeitlichen Taktung gestartet bzw. nicht gestartet werden. Ziel ist es, die Projekt- und Maßnahmenlandschaft gar nicht erst ausufern zu lassen. Das Prinzip „stop starting, start finishing“ ist ein erster guter Schritt in diese Richtung.

(Auszug aus dem Whitepaper „Führung 4.0 – Gestaltung von Zusammenarbeit in komplexen Umfeldern“)

 

 

Das könnte Sie auch interessieren!

08.12.2023
Louisa Reinheimer & Natalie Seibert
P1-Gedanken zu "I'm dreaming of..."
07.12.2023
Paolina Virga
Ein Impuls zur Jahresreflexion
07.12.2023
Dr. Reinhard Schmitt
I’m dreaming of … Versöhnung der systemischen Organisationstheorie mit New Work
07.12.2023
Stefanie Schweitzer
Neun Wege mit Weihnachtsbäumen umzugehen – oder: Der Blick durch die enneagrammatische Brille
07.12.2023
Petra Peres
Werkstattbericht: Sustainability for Leaders
21.06.2023
Louisa Reinheimer & Natalie Seibert
Unsere besten Wünsche und Empfehlungen für den Sommer
27.01.2023
Carsten Waider
Teamworkshop in der hohen Rhön
19.10.2022
Stefan Schneider
Mediation: So läuft effizientes Konfliktmanagement ab
04.10.2022
Paolina Virga
Was bewegt sich eigentlich so bei P1?
29.09.2022
Henning Keber
Bewegung in 3 Phasen
27.06.2022
Dirk Gouder
Warum Metamorphose und Top-Management nicht gut zusammenpassen
24.06.2022
P1
Purpose Driven Organizations
23.06.2022
Amato Baumgartner
Parallele zwischen Organisationen und Natur im Kontext Veränderung
25.04.2022
P1
NEIN sagen für eine lebenswerte Zukunft?
14.04.2022
Henning Keber
Konfrontierende Dialogkultur auf Augenhöhe
13.04.2022
Janina HantkeLucas Lossen
Nein-Sagen und Bedürfnisse
11.04.2022
Dr. Reinhard Schmitt
Bewusstes Ignorieren als organisationale Schlüsselkompetenz
01.02.2022
Dr. Reinhard Schmitt
Führungsherausforderungen in der hybriden Arbeitswelt
01.02.2022
Dirk Gouder
Back to Office: Die drei Herausforderungen zur Entwicklung einer “Blended Culture“ – Teil 2
02.12.2021
Process One
Erfahrungsbericht zum "Top Leadership Program" – Führung der nächsten Stufe mit Process One
04.11.2021
Carsten Waider
Teamentwicklung – wenn nicht jetzt, wann dann?!
04.11.2021
Process One
Diversity als Bestandteil von Environment Social Governance (ESG) stärken
28.10.2021
Dr. Reinhard Schmitt
Die Transformation bei Process One – Innenansichten eines selbsternannten Sozialskeptikers
03.09.2021
Paolina Virga
4-Tage-Woche, 5-Stunden-Tag und die Rückkehr zur Stechuhr
25.08.2021
Sven Fissenewert
Interview mit Dr. Andreas Zeuch
12.08.2021
Dirk Gouder
Back to Office: Die 3 Herausforderungen zur Entwicklung einer “Blended Culture“ – Teil 1
11.08.2021
Petra Peres
Jede Hilfe zählt!
19.07.2021
Sven Fissenewert
Noch'n Buchtipp mit unaussprechlichem Namen
14.07.2021
Process One
Erfahrungsbericht zur „Strength Expedition“ mit Process One
05.07.2021
Petra Peres
Sommer, Sonne, Lesestoff
03.05.2021
Paolina Virga
Onboarding Experience in einer Unternehmensberatung
08.03.2021
Petra Peres
Fast am „ş“ gescheitert - ein Artikel über fünf unbedingt lesenswerte Bücher von Frauen
25.02.2021
Dirk Gouder
Remote Work
07.04.2020
Dirk Gouder
Entscheiden wie entschieden wird! Leadership 4.0
13.02.2020
Henning Keber
Zukunft von Führung
15.01.2020
Carsten Waider
Werkstatt-Reihe zum Thema „Führen im digitalen Wandel“
06.01.2020
Carsten Waider
Was mache ich hier eigentlich? Dimensionen von Führung
12.12.2019
Sven Fissenewert
Pause
04.12.2019
Carsten Waider
Warum rede ich eigentlich mit Euch? Mein Kommunikationssystem
08.06.2019
Henning Keber
Decision base – für Unternehmensfinanzen begeistern
16.04.2019
Carsten Waider
New Work Bootcamp
18.03.2019
Peter Rathsmann
Objectives & Key results
18.12.2018
Carsten Waider
from business to being – Achtsamkeit in Führung
29.11.2018
Carsten Waider
Agiles Campusprojekt
19.11.2018
Carsten Waider
Neue Arbeitskulturen – Dialog mit Studierenden der Hochschule Fulda
13.11.2018
Carsten Waider
Add Venture Projekt
07.11.2018
Carsten Waider
Experiential Learning
01.10.2018
Carsten Waider
Neu: Entscheidungspoker für Teams bestellbar
18.09.2018
Carsten Waider
Führungspodcast #3: Der autonome Führungsstil – keine Paradoxie
13.09.2018
Carsten Waider
Experimentieren unter VUCA-Bedingungen: Der Selbsttest auf See
06.08.2018
Carsten Waider
Ihr macht das schon – Autonomie als Leitmotiv für lebendige Organisationen
30.07.2018
Carsten Waider
New Work Box Teil 6: Retrospektiven
23.07.2018
Carsten Waider
New Work Box Teil 5: Sprints
16.07.2018
Carsten Waider
New Work Box Teil 4: Timeboxing
09.07.2018
Carsten Waider
New Work Box Teil 3: Konsentprinzip
03.07.2018
Carsten Waider
What motivates you?
26.06.2018
Carsten Waider
New Work Box Teil 2: Rollenprinzip
19.06.2018
Carsten Waider
Das P1 Quarterly geht als Führungspodcast auf Sendung
18.06.2018
Carsten Waider
New Work Box Teil 1: Systematische Müllabfuhr
11.06.2018
Carsten Waider
New Work Box vorgestellt
22.05.2018
Carsten Waider
Gedankenzeichnen
17.04.2018
Carsten Waider
Great Place for New Work: Hafen Münster
27.03.2018
Carsten Waider
New Work – neues Process One Quarterly 1 / 2018 gerade erschienen
23.03.2018
Carsten Waider
Führung für Scrum Master – die Transformation von Führung wird sichtbar…
19.03.2018
Carsten Waider
Situatives Führen reloaded
31.01.2018
Carsten Waider
Process One experimentiert im Selbstversuch
18.12.2017
Carsten Waider
Quarterly 4.2017 erschienen: arbeitenviernull
14.12.2017
Carsten Waider
Lego-SCRUM
09.12.2017
Carsten Waider
Führen in der Digitalisierung – Navi für die VUCA Welt
20.11.2017
Carsten Waider
Process One Quarterly nun online abonnierbar
02.10.2017
Carsten Waider
Neues Process One Quarterly 3.2017 erschienen: An der digitalen Schwelle
22.08.2017
Carsten Waider
Blindfliegern darf man nicht die Lufthoheit überlassen
07.08.2017
Carsten Waider
Nachtrag Process One Quarterly 4.2016: be decisive!
01.08.2017
Carsten Waider
Process One Quarterly 2.2017
07.12.2016
Henrik Esper
Deep Work – 4 Strategien für fokussiertes Arbeiten
22.11.2016
Wigbert Walter
Studie Führungskultur
17.10.2016
Henning Keber
P1 Quarterly – BE PERCEPTIVE!
05.10.2016
Carsten Waider
Führung verbessern: Warum das so schlecht klappt
22.09.2016
Henning Keber
Tools & Elemente “New Work Order” – 2. Das Konsent-Prinzip
12.09.2016
Christian Wierlacher
P1 Quarterly – Sinn
29.08.2016
Henrik Esper
Deep Work – Zeit für „echte“ Arbeit
08.08.2016
Carsten Waider
P1 Quarterly Demokratie Wagen
19.07.2016
Dirk Gouder
P1 Quarterly Agile Leadership
27.06.2016
Sven Fissenewert
P1 Quarterly – New Work Order
20.06.2016
Henning Keber
Tools & Elemente “New Work Order” – 1. Shadowing
13.06.2016
Es vibriert in meiner Hose
07.06.2016
Wigbert Walter
Neue Studie will Führungskultur in Deutschland erforschen
30.05.2016
Henrik Esper
„Der Fluch der Zusammenarbeit“ – die Kosten der Kollaboration
23.05.2016
Dr. Reinhard Schmitt
P1 Quarterly – Innovation! Innvoation!
09.05.2016
Henning Keber
New Work Order – auch einfach mal ausprobieren.
25.04.2016
Henrik Esper
Contra „Pro und Contra“
14.04.2016
Henrik Esper
P1 Quarterly – Keine Führung ohne Macht
22.03.2016
Wigbert Walter
Gemeinsam die Arbeitswelt verändern
09.03.2016
Carsten Waider
Die Zukunft der Jobs
29.02.2016
Sven Fissenewert
Das Marshmallow-Problem
15.02.2016
Standard Administrator
Organisationale Führung – wo geht die Reise hin?
05.02.2016
Henning Keber
Verjüngungskur für die Zentrale
14.12.2015
Wigbert Walter
Advent –
23.11.2015
Bucherscheinung zum Thema Komplexität
16.11.2015
Dr. Reinhard Schmitt
Sicherheit als solche gibt es nicht
09.11.2015
Systemische Ursachen des VW Dieselskandals?
28.10.2015
Martina Post
Gesundheit als betriebliche Maßnahme!?
19.10.2015
Wigbert Walter
Planet der Affen
12.10.2015
Henning Keber
Leitbilder richtig entwickeln
16.09.2015
Dirk Gouder
Jetzt mal ehrlich! Kulturentwicklung gibt es nicht!
30.08.2015
Dr. Reinhard Schmitt
Mit nur 6 Regeln wird die Arbeit leichter …
10.08.2015
Peter Rathsmann
LEARN or DIE
29.07.2015
Henrik Esper
Der Weg zur Meisterschaft – ein Buchtipp
22.07.2015
Henning Keber
Metakompetenz Agilität
13.07.2015
Sven Fissenewert
Jetzt ist es amtlich: Das klassische Innovationsmanagement hat ausgedient!
22.06.2015
Wigbert Walter
Die wichtigste Frage
15.06.2015
Henrik Esper
Der gute alte William…mal was anderes
08.06.2015
Dr. Reinhard Schmitt
Innovationsblüten – bloß nicht einverleiben lassen!
25.05.2015
Peter Rathsmann
Leiter der Verantwortung: Opfer oder Täter?
18.05.2015
Dr. Reinhard Schmitt
Gewachsene Strukturen (be)greifbar machen
13.05.2015
Henning Keber
Das Pinguin-Prinzip
28.04.2015
Sven Fissenewert
Im Vertrauen gesagt
20.04.2015
Henning Keber
Die Geschichte vom Fischer und einem Samurai
23.03.2015
Dr. Reinhard Schmitt
Führen als „Scheißjob“…
26.02.2015
Henrik Esper
Wie schnell ist zu schnell, wie viel ist zu viel?
12.02.2015
Sven Fissenewert
Innovation: Wie kommt das Neue in die Welt?
26.01.2015
Dr. Reinhard Schmitt
Wird schon schiefgehen...
19.01.2015
Die drei besten Tipps für Powerpoint Präsentationen (PPP)
12.01.2015
Henning Keber
Putzen Sie noch oder führen Sie schon?